Radsport in Briancon
Französische Provinzorte geben alles darum, Etappenziel der Tour de France zu werden. Zum Beispiel Briançon, die selbst ernannte »Weltfahrradhauptstadt«
Über dem Marsfeld hängen die Telefonleitungen durch. Die Teerdecke ist geflickt, in einer Kuhle hat sich eine Öllache gesammelt. 50-mal steht Payant auf den Asphalt geschrieben. 20 Minuten darf man hier kostenlos parken, danach kostet die halbe Stunde 50 Cent. Hinten, wo der Champ de Mars zur Böschung ausfranst, zieht sich die mächtige Stadtmauer den Berg hinauf.
Aber an diesem heißen Julitag im Jahr 2000 wird das Marsfeld von Briançon seinem klingenden Namen gerecht. Heute ist es bedeutender als sein berühmter Namensvetter am Eiffelturm in Paris. Über Nacht wurde ein silberner Riesencontainer aufgebaut, 70 Meter lang, zwei Stockwerke hoch. Wieselnde Helfer bauen weiße Zelte auf. Vor der Bäckerei lasiert ein Lehrling die Blumenkübel. Maler legen eine Schablone aus und spritzen einen weißen Zielstrich auf den Asphalt.
Spätestens gegen 17 Uhr richtet die Weltöffentlichkeit für einige Minuten ihre Aufmerksamkeit auf das französische Alpenstädtchen und seine 10.000 Einwohner. Dann wird die Tour de France in Briançon erwartet.
Jeden Sommer ergeht es in Frankreich einem guten Dutzend Provinzstädtchen zwischen der Bretagne und den Pyrenäen wie Briançon: Die Städte sind die Stars. Für einen Tag werden sie zum Austragungsort der nach Olympiade und Fußball-WM drittgrößten Sportveranstaltung der Welt.
Dann fallen 50.000 Leute ein: 180 Radrennfahrer und 300 Mannschaftsbegleiter, 500 Organisatoren und 2000 Journalisten. Dazu kommen in Briançon mehr als 40.000 Zuschauer. So wird über Nacht ein gebührenpflichtiger Parkplatz wirklich zum Marsfeld. In dem silbernen Container sitzen Fernsehkommentatoren. 53 Sender übertragen die Zielankunft von Briançon in die ganze Welt.
Ein in Ehren ergrauter Radsportler sonnt seine Krampfadern. Auf seinem kurzen Haar sitzt ein knappes Rennfahrerkäppi. Die Unterarme hat er auf das Absperrgitter gestützt und liest die Sportzeitung L'Équipe. Des Stehens überdrüssig, entdeckt er einen mit rot-weiß gestreifter Plastikfolie umhüllten Strohballen und zerrt ihn ans Absperrgitter.
Das leuchtet den deutschen Jungs mit der schwarzen Piratenflagge ein. Sie packen den nächsten Strohballen. Die Italiener, kenntlich an der rosafarbenen Gazetto dello Sport, lassen jetzt auch alle Rücksicht fahren und drücken ihre Campingstühle in die Rosen.
Ein Kinderwagen biegt eine junge Blutbuche um. Derweil ist der Mann im gelben Trikot noch 130 Kilometer weit weg, nimmt gerade den ersten von drei Alpenpässen in Angriff, und die Rabatte am Marsfeld ist schon perdu.
Briançon ist die höchstgelegene Stadt Frankreichs, 1326 Meter hoch. Drei mächtige Festungen auf den umgebenden Bergen zeugen davon, dass dieser Alpenübergang zwischen Grenoble und Turin jahrhundertelang als strategische Schlüsselstelle galt. Die schiefergedeckten Doppeltürme der Stiftskirche geben der Stadt ein markantes Gesicht. Doch seit dem 19. Jahrhundert ist außerhalb der Stadtmauern ein französisches Landstädtchen gewachsen, das arm ist an Postkartenmotiven. Die Gegend lebt zwar vom Tourismus. Aber es gibt in Frankreich ganz sicher Orte, die mehr Charme und Altertümer zu bieten haben.
So nennt sich Briançon immerhin die »Weltfahrradhauptstadt«. Bereits 30-mal hat die Tour de France hier Etappe gemacht.
Ringsum stehen Berge, deren Pässe von Radsportlern nur im Tonfall der Ehrfurcht genannt werden: Galibier, Lautaret, Col d'Izoard. An der Stadtmauer erinnert eine Tafel mit goldenen Buchstaben an den legendären Italiener Gino Bartali, der hier dreimal gewinnen konnte.
Im November hat der Veranstalter der Tour de France in Paris den Streckenverlauf offiziell vorgestellt. Inoffiziell weiß Briançon schon seit September, dass die Rennfahrer hier Etappe machen werden.
Der commissaire général, ein ehemaliger Erdkundelehrer, hatte die Straßen vorab inspiziert. Und er hat seine Bestellungen abgegeben: sechs Kilometer Absperrgitter, 20 000 Liter Wasser, 800 Kilo Eis (um die Trinkflaschen der Fahrer zu kühlen) und fünf Blumensträuße (für die Sieger).
Die harten Fans sind bereits am Vortag angereist. Zirka 400 Wohnmobile säumen die Passstraße zum Col d'Izoard, dem Gipfel 2360 Meter oberhalb der Baumgrenze.
Am Straßenrand liegen Rennräder, Zelte werden aufgeschlagen. Ein Wohnmobilkapitän aus Pirmasens dreht an seiner Satellitenschüssel, bis er die Live-Bilder von der Tour empfangen kann.
Die Italiener aus Cesenatico haben ein Plakat gemalt: »Marco, die Liebe der Kinder ist mit dir«. Sie feuern Marco Pantani an, den Kletterkönig, der erst neulich gesperrt wurde: Doping erscheint hier am Straßenrand wie eine akademische Diskussion, die mit dem wahren Leben nichts zu tun hat. Die Fans wollen sich ihr Fest nicht durch Kontrolleure und Staatsanwälte vermiesen lassen.
Am Nachmittag sperrt die Polizei die Straße zum Izoard für jeglichen Verkehr, nicht einmal mehr Radfahrer werden durchgelassen, nur noch die fléchage.
Diese beiden Kleinbusse fahren mit gelbem Blinklicht auf dem Dach. An jeder Kreuzung springen zwei Mann aus den Autos, nageln als Wegzeiger für die Rennfahrer neongelbe flèches, also Pfeile, an rohe Holzlatten, binden diese mit Draht an Verkehrsschilder, zwicken mit einer Beißzange sauber die Enden ab und sitzen wieder auf.
Ganz Briançon hat sich für den großen Tag mehr oder weniger originell herausgeputzt. Das Restaurant Central hat seine Markise mit Felgen dekoriert, die Bedienungen tragen blaue Radtrikots. Im François 1er an der Stadtmauer stehen heute »Salat Pantani« und »Lachs à l'Izoard« in Konkurrenz. Der Herrenausstatter in der steilen Gasse der Altstadt hat Poloshirts und Hosen im Schaufenster auf einem rostigen Rennrad drapiert.
Als der Mann im gelben Trikot am Col de Vars in den Wiegetritt geht, richten Helfer am Marsfeld von Briançon eine silbergraue Muschel auf, gut fünf Meter hoch. Hier werden später Hostessen den Sieger küssen.
An der Avenue de la République stellen Schweizer Fans ihre Kuhglocken ab. Neben ihnen wartet eine junge Frau auf das Fahrerfeld. Sie sitzt auf der Stützmauer und liest Siddharta. Zwischen Kino und Kriegerdenkmal, wo ein aufblasbares Portal den letzten Kilometer ankündigt, bezieht ein altes Ehepaar mit Klappstühlen Position.
Die Tankstelle verkauft heute kein Benzin. Vor den Zapfsäulen ist eine Stahlrohrtribüne aufgebaut. Der Patron des Restaurants Les Écrins - Schmuckkästchen - tritt auf die Straße. Seine weiße Kochschürze hat braune Flecken, seine Augen zieren rote Ränder.
Heute Mittag hat Albert Drouet 80 Menüs serviert. Das Haus war voll mit den geladenen Gästen der Bank, die das gelbe Trikot sponsert. Heute Abend muss er ein Büfett für die VIPs aufbauen. »Seit drei Tagen brummt die Stadt«, sagt der Wirt. Er nennt die Tour la petite reine - »die kleine Königin«, und Briançon ist so etwas wie ihr Landsitz.
»Alle Großen haben hier gewonnen«, schwärmt er und zählt sie an den Fingern seiner Linken ab: »Merckx, Bartali, Hinault. Die Tour ist der Botschafter unseres Tals. Wenn es nicht so teuer wäre, müssten wir jedes Jahr eine Etappe haben.« Knapp 150.000 Euro hat Briançon an den Veranstalter der Tour de France gezahlt, um Etappenort zu werden.
Diesen Sommer machen drei große Profiradrennen in Briançon Station. Das lässt sich die Stadt eine Million Mark kosten. Den Werbewert beziffert ein Sprecher auf fünf Millionen Mark.
Die Stiftskirche ist hinter einer Videowand verschwunden. In doppelter Lebensgröße zeigt sie den führenden Kolumbianer, ein schmächtiger Mann von 69 Kilo. Bei der Abfahrt vom Col d'Izoard reißt er den Mund auf, streckt die Zunge bis zum Anschlag heraus, als ob der Fahrtwind so seine Eingeweide besser kühlen könnte. Er hat jetzt 230 Kilometer in den Beinen. Allein der Anstieg zum Izoard war 20 Kilometer lang. Keine halbe Stunde mehr bis ans Ziel. Dort klopfen, schlagen, trommeln die Zuschauer begeistert auf die Werbebanden an den Absperrgittern. Ein Moderator stellt Quizfragen zum Radsport.
Kurz nach 16 Uhr kommt dann zuerst die Werbekarawane: 250 Fahrzeuge mit überdimensionalen Kaffeetassen, Handys, Camemberts auf dem Dach, ein Motorrad mit Cola-Flasche als Seitenwagen. Hostessen in Spaghettiträgertops winken und schleudern Frisbeescheiben unters Volk. Nur bei der Kehrmaschine wird nicht ganz klar, ob sie Werbung für Kehrmaschinen oder nur die Straße sauber macht.
Sponsoren und VIPs, die schon manche Sportveranstaltung ruiniert haben, können diesem Straßenfest nichts anhaben. Die Begeisterung der Fans ist stärker. Wie bei jedem echten Volksfest werden für ein paar Stunden die Zäune zwischen den Klassen niedergetrampelt. Die Frau mit der Gucci-Sonnenbrille zwängt sich neben den verschwitzten Radsportler, der das Trikot von Marco Pantani trägt und sein Rennrad hochkant durch die Menge schiebt, den Lenker vor der Brust.
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