Briefe aus einer Mühle

 

Meister Cornilles Geheimnis

Von Alphonse Daudet.

Aus "Briefe aus meiner Mühle"

Der Dichter wurde am 13. 5. 1840 in Nimes geboren und starb am 16. 12. 1897 in Paris.

Ein alter Querpfeifenbläser, der mich von Zeit zu Zeit am Feierabend besucht, hat mir neulich folgende Geschichte erzählt, deren Zeuge meine Mühle gewesen ist:

Unsere Gegend hier in der Provence war nicht immer so tot und stumm wie heute. Früher blühte hier das Müllerhandwerk, und von zehn Meilen in der Runde brachten uns die Leute von den Höfen ihr Getreide zu mahlen. Rings um das Dorf standen Windmühlen auf den Hügeln. Rechts und links sah man nichts als Windmühlenflügel, die sich über den Kiefern im Mistral drehten. Kleine Eselchen stiegen in langen Reihen, mit Säcken beladen, die Wege hinauf und wieder hinab; und die ganze Woche war es eine wahre Lust, auf den Höhen oben das Peitschenknallen, das Knattern der Leinwand an den Flügeln und das Hü und Hott der Müllerburschen zu hören.

Sonntags gingen wir in Scharen zu den Mühlen hinauf. Da oben ließen die Müller für uns den Muskateller fließen. Die Müllerinnen waren schön wie Königinnen mit ihren Spitzentüchern und den goldenen Kreuzen. Ich selber nahm meine Querpfeife mit, und bis in die dunkle Nacht tanzte man die Farandole. Die Mühlen waren Freude und Reichtum unseres Landes.

Zu unserm Unglück hatten ein paar Franzosen aus Paris den Einfall, an der Straße nach Tarascon eine Dampfmühle zu bauen. Der Reiz des Neuen! Die Leute gewöhnten sich daran, ihr Korn zu den Dampfmüllern zu bringen, und die armen Windmühlen waren ohne Arbeit. Eine Zeitlang versuchten sie sich zu behaupten, aber der Dampf war stärker als der Wind, und eine nach der andern mußten sie alle schließen, die armen Dinger! Man sah keine kleinen Eselchen mehr kommen. Die schönen Müllerinnen verkauften ihre goldenen Kreuze. Kein Muskateller mehr, keine Farandole! Der Mistral konnte blasen, soviel er wollte, die Flügel standen still. Und dann eines schönen Tages ließ die Gemeinde all diese alten Gemäuer herunterreißen, und man säte Wein und Ölbäume an ihrer Statt.

Eine einzige Mühle aber hatte inmitten des Zusammenbruches standgehalten und drehte sich weiterhin tapfer auf ihrem Hügelchen, den Dampfmüllern vor der Nase. Das war die Mühle von Meister Cornille, dieselbe, in der wir jetzt eben unseren Feierabendschwatz halten.

Meister Cornille, ein alter Müller, lebte seit sechzig Jahren zwischen den Mehlsäcken und war mit Leidenschaft bei seinem Beruf. Die Errichtung der Dampfmühlen hatte ihn fast wahnsinnig gemacht. Acht Tage lang sah man ihn durchs Dorf laufen, alles um sich zusammenrottend und aus allen Kräften schreiend, mit dem Mehl aus den Dampfmühlen wolle man die Provence vergiften. "Geht nicht dort hinunter", sagte er. "Um uns Brot zu bereiten, benutzen diese Banditen den Dampf, und der ist eine Erfindung des Teufels. Ich dagegen, ich arbeite mit dem Mistral und der Tramontana, und die sind der Atem des lieben Gottes." Und so fand er eine Menge schöner Worte wie diese zum Lob der Windmühlen, aber niemand hörte sie an.

Da vergrub sich der Alte in wütendem Grimm in seine Mühle und lebte ganz einsam wie ein wildes Tier. Er wollte nicht einmal seine Enkelin Vivette bei sich behalten, ein Mädchen von fünfzehn Jahren, das seit dem Tode seiner Eltern keinen Menschen als den Großvater auf der weiten Welt hatte. Das arme Kind mußte sich sein Brot selbst verdienen und überall auf den Höfen, mal hier mal dort, sich verdingen, zur Getreidemagd, für die Seidenwürmer oder die Olivenernte. Und doch schien der Großvater sie sehr lieb zu haben, die Kleine. Oft überkam es ihn, daß er vier Meilen zu Fuß in der glühenden Sonne wanderte, um sie auf dem Gut, wo sie arbeitete, zu besuchen. Und wenn er bei ihr war, verbrachte er Stunden und Stunden damit, sie anzusehen und zu weinen.

Aber in seinem Leben war etwas, das man nicht verstand. Längst brachte ihm keiner aus dem Dorf mehr Getreide, und doch gingen die Flügel seiner Mühle weiter wie zuvor. Abends traf man den alten Müller unterwegs, wie er seinen mit dicken Mehlsäcken beladenen Esel vor sich hertrieb.

"Grüß Gott, Meister Cornille!" riefen die Landleute ihm dann zu. "Es geht also gut mit dem Mehlhandel?"

"Immer, Nachbarn", antwortete der Alte mit munterer Miene. "Gottlob, an Arbeit fehlt es uns nicht."

Wenn man ihn darauf fragte, woher so viel Arbeit kommen könne, legte er den Finger auf die Lippen und antwortete bedeutsam: "Pst! Ich arbeite für den Export."


Niemals konnte man mehr aus ihm herausbringen. Und die Nase in die Mühle zu stecken - daran war nicht zu denken. Die kleine Vivette selbst traute sich nicht hinein.

Ging man draußen an der Mühle vorbei, so sah man die Tür stets geschlossen, die großen Flügel stets in Bewegung, den alten Esel Gras auf der Plattform zupfen und eine große magere Katze, die sich in der Sonne auf dem Fenstersims wärmte und einen mit bösen Augen ansah.

All das roch, als ob etwas dahinter steckte, und gab Anlaß zu viel Geschwätz unter den Leuten. Jeder erklärte sich Meister Cornilles Geheimnis auf seine Weise, aber allgemein ging das Gerücht, es gäbe in dieser Mühle mehr Säcke voll Taler als Säcke voll Mehl.

Eines Tages, als ich mit meiner Querpfeife dem jungen Volk zum Tanz aufspielte, entdeckte ich, daß mein Ältester und die kleine Vivette sich ineinander verliebt hatten. Ich wollte die Sache gleich ins reine bringen und stieg zur Mühle hinauf, um zwei Worte im Vertrauen mit dem Großvater zu reden.

Ah, der alte Hexenmeister! Stellen Sie sich vor, wie er mich empfing! Keine Macht der Welt hätte ihn dazu bringen können, seine Tür zu öffnen. Ich erklärte ihm die Gründe für meinen Besuch, so gut ich konnte, durchs Schlüsselloch; und solange ich sprach, saß das dürre Katzenvieh über meinem Kopf und fauchte.

Der Alte ließ mir nicht Zeit, zu Ende zu kommen. Er brüllte mich sackgrob an, ich solle mich nach Hause scheren zu meiner Flöte, und wenn ich Eile hätte, meinen Jungen zu verheiraten, könnte ich mir ja ein Mädchen aus der Dampfmühle holen. Das Blut stieg mir zu Kopf bei so argen Worten, aber ich blieb trotzdem besonnen genug, um an mich zu halten. Ich ließ den alten Narren bei seinem Mühlstein und ging, den Kindern mein Mißgeschick zu erzählen. Die armen Lämmer konnten es nicht fassen. Sie baten mich um Erlaubnis, daß sie beide zusammen zur Mühle hinaufgehen dürften, um mit dem Großvater zu sprechen. Ich hatte nicht den Mut, nein zu sagen, und hui! sind meine Liebesleutchen auf und davon.


Als sie oben ankamen, war Meister Cornille eben fortgegangen. Die Tür war abgeschlossen. Aber der alte Freund hatte seine Leiter draußen gelassen, und sogleich kamen die Kinder auf den Einfall, durchs Fenster hineinzuklettern und nachzusehen, was in der berühmten Mühle eigentlich los sei.

Seltsam! Die Mahlkammer war leer. Nicht ein Sack, nicht ein Körnchen Getreide; kein bißchen Mehl an den Wänden und auf den Spinngeweben. Man roch nicht einmal den guten warmen Duft des zermahlenen Weizens, der sonst die Luft in den Mühlen würzt. Die Flügelwelle war mit Staub bedeckt, und die große dürre Katze schlief darauf.

Der untere Raum bot dasselbe Bild von Elend und Verlassenheit; ein dürftiges Bett, ein paar Lumpen, ein Stück Brot auf einer Treppenstufe, und in einem Winkel dann noch einige aufgerissene Säcke, aus denen weißer Gips quoll.

Das also war Meister Cornilles Geheimnis! Gips war es, was er abends in den Straßen umherführte, um die Ehre der Mühle zu retten und um glauben zu machen, dort werde Mehl gemahlen. Arme Mühle! Armer Cornille! Längst hatten die Dampfmüller ihnen den letzten Kunden abspenstig gemacht. Die Flügel kreisten immerfort, aber der Mühlstein drehte sich leer.

Die Kinder kamen ganz in Tränen zurück und erzählten mir, was sie gesehen hatten. Mir schnitt es ins Herz, als ich sie hörte. Ohne eine Minute zu verlieren, lief ich zu den Nachbarn. Ich erklärte ihnen die Sache in zwei Worten, und wir kamen überein, daß auf der Stelle aller Weizen, der in den Häusern war, in Cornilles Mühle gebracht werden müsse.

Gesagt, getan! Das ganze Dorf macht sich auf, und wir kommen oben an mit einer Prozession von Eseln, die das Korn hinaufschleppen. Die Mühle stand weit offen. Vor der Tür saß Meister Cornille auf einem Sack Gips und weinte, den Kopf in den Händen. Als er heimkam, hatte er entdeckt, daß während seiner Abwesenheit jemand bei ihm eingedrungen war und sich in sein trauriges Geheimnis geschlichen hatte.

"Ich Armer!" sagte er. "Nun bleibt mir nichts als zu sterben. Die Mühle ist entehrt ".

Und er schluchzte, daß es einem die Seele zerriß, nannte seine Mühle mit allen möglichen Kosenamen und sprach zu ihr wie zu einem lebendigen Wesen.

In diesem Augenblick erscheinen wir mit unseren Eseln auf der Plattform, und wir alle heben aus vollem Halse zu rufen an, wie in der guten alten Zeit der Müller.

"Hallo, Mühle! Hallo, Meister Cornille!"

Und da häufen sich die Säcke vor der Tür, und das schöne rotbraune Korn läuft auf den Boden, nach allen Seiten hin.

Meister Cornille machte große Augen. Er nahm ein paar Körner in seine alte Hand und sagte lachend und weinend zugleich: "Weizen! Herrgott im Himmel! Guter echter Weizen! Laßt mich, ich muß ihn mir ansehen. Ah, ich wußte, daß ihr wieder zu mir kommen würdet. Die in der Dampfmühle sind alle Spitzbuben."


Wir wollten ihn im Triumph ins Dorf hinuntertragen.

"Nein, nein Kinder, vor allem muß ich meiner Mühle zu essen geben. Wie lange hat sie nichts zwischen den Zähnen gehabt"

Und wir alle hatten Tränen in den Augen, als wir den armen Alten bald rechts und bald links geschäftig sahen, wie er jetzt die Säcke aufschlitzte, dann auf die Mühlsteine aufpaßte, während sie das Getreide zermalmten und der feine Weizens taub zur Decke aufflog.

Von diesem Tag an hat es dem alten Müller niemals an Arbeit gefehlt. Eines Morgens dann starb Meister Cornille, und die Flügel unserer letzten Mühle standen still, diesmal für immer.

Nachdem Cornille tot war, hat niemand seine Nachfolge angetreten. Das ist nun einmal so; alles in der Welt hat ein Ende. Und die Zeit der Windmühlen ist ebenso vorüber wie die der Marktschiffe auf der Rhone, der Königlichen Gerichte und der groß geblümten Männerröcke.

 

 

 
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