Leben in Frankreich - anno 1962
Zu Hause bei Pierre und Annette Es ist ein Brief angekommen, ein Brief aus Frankreich! Pierre und Annette laden uns ein, sie in den Ferien zu besuchen. Unsere kleine Schwester bekommt ganz ängstliche Augen. "Aber werden wir uns mit dem bisschen Französisch, das wir in der Schule gelernt haben, dort zurechtfinden?" "Natürlich', sagen wir. "Was heißt zum Beispiel ,guten Tag'?" - "Bon jour!" antwortet die kleine Schwester prompt. "Richtig, und was heißt ,die Mutter', ,der Vater', ,die Kinder'?" - "La mere, le pere, les enfants." - "Na also, nun wissen wir schon, wie die ganze Familie auf französisch heißt. Außerdem können unsere Freunde ein wenig Deutsch. Wir werden uns schon verständigen." Eine Woche später fährt dann unser Zug in den Bahnhof der französischen Kleinstadt ein, und auf dem Bahnsteig stehen la mere, le pere und les enfants, Pierre und Annette. Sie winken und rufen: "Bon jour, bon jour!" Sie nehmen uns die Koffer ab, umarmen und küssen uns. Wir sind ein wenig erstaunt darüber, denn wir kennen unsere Freunde bis jetzt ja nur brieflich. Vor dem Bahnhof begegnen wir einem Herrn, den der Vater herzlich begrüßt und ebenfalls auf die Wange küsst. "Ist das ein Verwandter von euch?" fragt die kleine Schwester. "Ach wo", antwortet Annette, "das ist ein guter Freund vom pere." Da haben wir gleich gelernt, dass man sich in anderen Ländern anders begrüßt als bei uns. Und wir müssen noch vieles lernen. Am anderen Morgen stehen wir früh auf. Wir wollen mit Pierre und Annette zusammen frühstücken, bevor sie zur Schule gehen. Sie sitzen schon mit der Mutter am Tisch, haben kleine Schüsselchen mit heißer Milch vor sich und tunken mit Butter bestrichenes Weißbrot in die Milch. "Was habt ihr für hübsche Kittel über den Kleidern!" rufen wir. "Das sind unsere Schulkittel", sagt Annette. "Alle Kinder in Frankreim tragen Kittel in der Schule." - "Das ist praktisch", meint la fiere. "Die Kleider werden dadurch nicht so schnell schmutzig." Wir denken beschämt an unsere arme Mutter zu Haus, die immer wieder aus unseren Röcken und Hosen die Tintenflecken herauswaschen muss. Doch nun müssen Pierre und Annette von uns Abschied nehmen. "Mittags kommen wir zum Essen", sagt Annette. "Und dann habt ihr frei?" - ,0 nein, nachmittags müssen wir wieder zur Schule, bis fünf Uhr. Und wenn wir nach Hause kommen, müssen wir Schularbeiten machen." - "Aber wann habt ihr denn Zeit zum Spielen?" fragen wir ganz entsetzt. "Morgen", antwortet Annette. "Morgen ist Donnerstag, da haben wir den ganzen Tag schulfrei." Die kleine Schwester rümpft die Nase. "In Frankreich möchte ich nicht zur Schule gehen. Einmal in der Woche spielen ist ein bisschen wenig!" - "Aber Pierre, du gehst doch erst in die zweite Klasse, hast du denn auch so viel Schule und Schularbeiten?" Der kleine Pierre nickt. "Ja, leider, und dabei hab' ich viel Wichtigeres zu tun, zum Beispiel mit meiner Eisenbahn zu spielen." Als die beiden fort sind, erfahren wir noch von der Mutter, dass die Kinder in Frankreich ein viertel Jahr lang Sommerferien haben. Das klingt schön. Aber als wir hören, dass es keine Weihnachts-, Pfingst-, Oster- und Herbstferien gibt, sieht die Sache schon wieder anders aus. Pünktlich zum Mittagessen sind Pierre und Annette aus der Schule zurück. Sie hängen ihre Schulkittel in den Schrank. Dann holen sie dicke Filzsohlen hervor, schieben sie unter ihre Schuhe und flitzen nun wie auf Schlittschuhen über das Linoleum, "Erlaubt denn das eure Mutter?" fragen wir. "Natürlich! Die Dinger sind doch dazu da, damit der Fußboden schön sauber bleibt. Außerdem wird gleich gut gebohnert." Annette sucht uns auch Filzsohlen heraus, und bald geht es im Zimmer wie auf einer Eisbahn zu. Hoppla, jetzt ist Pierre an ein kleines Schränkchen gestoßen, und ein Bild ist heruntergefallen. Gott sei Dank ist es nicht entzwei gegangen! Es ist nämlich sehr hübsch. Annette ist darauf zu sehen, in einem weißen, bis auf die Füße reichenden Kleid, mit einem Schleier im Haar und einer Kerze in der Hand. Wie eine kleine Braut sieht sie aus. "Das ist mein Kommunionsbild", sagt Annette stolz. "Wir tragen zur Kommunion lange Kleider." Der Vater kommt herein und guckt uns über die Schulter. "Ein berühmter französischer Dichter hat einmal gesagt: Zur Kommunion sehen die kleinen Mädchen alle aus wie Sahnetörtchen aus Tüll." Nun kommt auch der große Bruder von Pierre und Annette nach Hause. Er ist schon fast erwachsen. Annette deckt den Tisch. Von der Mutter haben wir seit langer Zeit nichts gesehen. Wir hören es nur aus der Küche brodeln und zischen, und ein Duft dringt durch die Tür, der uns Appetit macht. Wir setzen uns um den Tisch. Nur die Mutter hat noch in der Küche zu tun. Der Vater schneidet eine Melone auf und legt jedem ein Stück auf den Teller. Die frische, süßeFrucht schmeckt uns gut. "Nun kommen die ,Pommes frites", sagt er. "Habt ihr schon einmal gesehen, wie man die zubereitet? Das ist nämlich eine Kunst." Wir dürfen ausnahmsweise vom Tisch aufstehen und in die Küche gucken. Die Mutter steht mit roten Backen am Herd. Sie hat fingerlange Kartoffelstreifen in ein Sieb gelegt und stellt das Sieb jetzt in einen Topf mit kochendem Fett. Nach ein paar Minuten nimmt sie es heraus, lässt das Fett abtropfen, taucht das Sieb wieder in den Topf, nimmt es nach einer Weile wieder heraus, taucht wieder ein und so fort und so fort, bis die Kartoffeln goldbraun und knusprig sind. Sie werden im Sieb mitten auf den Tisch gestellt, und der Vater legt auf. Wir essen mit den Fingern. Ah, Pommes frites schmecken köstlich! Nun hat die Mutter auch endlich Zeit zum Essen, denn nach den Pommes frites gibt es Fleisch, das schon fertig ist, danach Salat und endlich frischen, weißen Käse, der mit Zucker gegessen wird. Die kleine Schwester ist so begeistert davon, dass Annette ihr noch ihren Käse gibt. Zum Essen gibt es roten Wein, auch für die Kinder. " Aber Pierre, darfst du denn schon Wein trinken?" - "Natürlich, ich bin doch kein Baby!" sagt Pierre empört. Wir verschweigen lieber, dass bei uns nicht nur den Babys der Wein verboten ist. Auch die kleine Schwester trinkt tapfer ihr Glas leer, obgleich es ihr gar nicht schmeckt; sie möchte nicht gern als Baby angesehen werden. Beim Essen wird viel gesprochen. Die Kinder erzählen aus der Schule, und der Vater fragt, was sie für Zensuren bekommen haben. Aber er ist kein strenger Vater. Besonders Annette, die Schmeichelkatze, kann bei ihm viel erreichen. Jetzt möchte sie zum Beispiel, dass er ihr erlaubt, im nächsten Monat für ein paar Wochen zu einer Freundin aufs Land zu gehen. "Aber kannst du denn so lange von der Schule fort?" fragen wir erstaunt. "Ich gehe eben dort zur Schule", sagt Annette. Und wir erfahren, dass in Frankreich in jeder Schule immer zur gleichen Zeit das Gleiche gelehrt wird. Wenn Annette zum Beispiel in Geografie etwas über Deutschland lernt, dann lernt die kleine Denise in Paris, die in der gleichen Klasse ist, zur gleichen Zeit genau dasselbe, ebenso wie Blanche, die in einem Dorf in Südfrankreich zur Schule geht.
Am Mittwoch haben wir also nicht viel von unseren beiden Freunden. Aber nun ist Donnerstag und in ganz Frankreich schulfrei. Wir schlendern mit Pierre und Annette durch das hübsche Städtchen und beobachten ein paar Männer beim Boulespielen. Sie sehen zwar nicht aus, als ob sie noch zur Schule gingen, aber sie scheinen sich auch einen freien Tag zu machen. Es ist spannend zuzusehen, wie sie versuchen, mit ihren Kugeln die Kugeln der Mitspieler zu treffen. Unterdessen haben Pierre und Annette ein "Himmel und Hölle" auf das Pflaster gemalt. Die kleine Schwester darf mitspielen, und es fällt ihr nicht schwer, weil wir es zu Hause ganz genau so machen. Dieses Spiel scheinen die Kinder in ganz Europa zu spielen, wenn es auch manchmal anders genannt wird, zum Beispiel ,Hopse'. Später ruft uns die Mutter. Wir sollen einholen gehen. Zuerst kaufen wir eine Flasche Wein in einem Lokal, das hier "Bistro" genannt wird. Die kleine Schwester kann sich gar nicht von einer hübschen Katze trennen, die dort auf einem Stuhl liegt. "Hoffentlich setzt sich niemand drauf!" sagt sie besorgt. In einem Gemüsegeschäft kaufen wir Tomaten und in einer Bäckerei lange, knusprige Brote, ,flutes', das heißt ,Flöten', genannt. Pierre bezahlt, und wir passen genau auf, wie viel Francs er auf den Ladentisch legt. Ein Franc ist in Frankreich etwa so viel wert wie bei uns eine Mark. "Am besten zu essen gibt es immer, wenn der pere einkauft", sagt Annette. "Euer Vater kauft ein?" fragen wir erstaunt. "Wann denn?" "Jeden Sonntagvormittag und in der Woche manchmal abends, wenn er Lust hat." - "Sind denn bei euch sonntags und am Abend die Geschäfte offen?" - "Aber ja, wann sollten denn sonst die Männer einkaufen!" antwortet Pierre. "Es wäre schlimm, wenn Vater nie einkaufen würde. Er bringt immer die allerbesten Sachen heim."
Weil heute freier Donnerstag ist, fahren wir nachmittags mit der Mutter nach Lyon. Das ist eine hübsche Stadt mit einem wunderschönen Rathaus. Auf dem Platz davor gibt es viele Tauben, die wir füttern. Väter und Mütter gehen hier mit ihren Kindern spazieren. Die kleinen Mädchen tragen weiße Kleidchen, weiße Schuhe und Wadenstrümpfe, haben Hütchen auf und weiße Handschuhe an, ganz wie kleine Damen. "Och", sagt die kleine Schwester, "was für eine Ziererei!" Aber sie muss doch zugeben, dass die geputzten Dinger ganz allerliebst aussehen. Wir finden Lyon sehr hübsch, aber Pierre sagt: "Richtig schön ist es erst, wenn die ,Tour de France' hier durchkommt, das große Radrennen, das durch ganz Frankreich geht. Ich sage euch, dann ist hier Betrieb! Alle Menschen sind auf den Straßen." "4630 Kilometer müssen die Radfahrer bewältigen!" sagt Annette und ist ganz stolz, dass sie die Zahl behalten hat. "Das letzte Mal war es sehr heiß", erzählt Pierre. "Wir saßen am Straßenrand und machten uns Mützen aus Zeitungspapier und aus Taschentüchern. Dann kamen die Radfahrer angesaust. Hui, wie sie schwitzten und strampelten! Ein dicker Mann nahm einen Eimer mit Wasser und goss ihn über den ersten Fahrer, damit er sich etwas abkühlte. Dann gab er ihm noch einen Schubs, um ihm für kurze Zeit das Strampeln zu ersparen. Wir andern haben geschrien und geklatscht und die Fahrer angefeuert. Es war wirklich sehr aufregend!" Wir sind recht müde von unserem erlebnisreichen Tag mit Pierre und Annette. Als wir nach Hause kommen, sitzt der Vater im Sessel und liest die Zeitung. Er hat es sich bequem gemacht, die Jacke abgelegt und Hausschuhe angezogen. Er plaudert noch ein wenig mit Pierre und Annette, bevor sie ihren Gutenachtkuss bekommen.
Ein Ausflug Acht Tage sind wir bei Pierre und Annette geblieben. Nun wollen wir uns noch etwas mehr von ,La France', dem Lande Frankreich, ansehen. Blau-weiß-rot flattert die Trikolore, die französische Fahne, vorn an unserem Auto. Das Land, durch das wir fahren, ist grün und fruchtbar. Zuckerrüben wachsen hier, und an sonnigen Hängen stehen in schnurgeraden Reihen Weinstöcke. In Frankreich wird viel Wein angebaut, aber die Franzosen brauchen ja auch viel Wein, wenn bei ihnen selbst die Kinder welchen trinken. Die Bauern arbeiten auf den Feldern. Wenn wir vorbeifahren, richten sie sich auf und winken; und wenn wir anhalten, kommen sie heran und machen ein Schwätzchen mit uns. Die Franzosen sprechen gern miteinander. Auch jetzt, am hellen Vormittag, sitzen in den kleinen Städtchen, durch die wir fahren, Männer auf Stühlen vor den Cafes und plaudern miteinander. Wir setzen uns dazu und bestellen Croissants, Splitterhörnchen, und einen Cafe-creme, das ist Kaffee, auf dem die Milch als schaumig geschlagenes Häubchen schwimmt. "Habt ihr denn gar nichts zu tun?" fragen wir einen der Männer. Der lacht und lehnt sich behaglich zurück. "Wir tun ja etwas", sagt er schmunzelnd. "Während wir hier beisammensitzen, machen wir Geschäfte; und wenn wir auch nur miteinander plaudern, kommen uns dabei die besten Gedanken. Na, und manchmal muss man doch auch ein bisschen ausruhen!". Bei der Weiterfahrt kommen wir durch schöne Buchenwälder. Da es Mittag ist, wandern die Bauern von den Feldern heim zu ihren Höfen. Manche führen ein Pferd am Zügel, das einen zweirädrigen, mit Stroh beladenen Wagen zieht. Die Räder des Wagens sind so hoch wie ein Mann. An einem Straßenschild müssen wir einen Augenblick anhalten. Es steht tatsächlich ,Cognac' darauf. Wir denken an unseren Vater zu Haus. An Sonntag abenden schenkt er sich manchmal ein Gläschen von dem goldbraunen Weinbrand ein, trinkt ihn unter vielen "Ahs" und "Ohs" und sagt: "Es geht nichts über einen echten französischen Cognac!" Sicher würde Vater, wenn er bei uns wäre, jetzt vom Wege abbiegen und in diesen Ort fahren, nach dem sein Lieblingsgetränk genannt ist. Aber für Kinder ist Cognac nichts, und außer,dem wollen wir ja nach Paris. So rollen wir weiter die Straße entlang, auf die französische Hauptstadt zu. Zuerst verwirrt uns das wirbelnde Leben der großen Stadt. Viele Menschen drängen auf den Bürgersteigen, und viele Autos brausen auf den Straßen dahin. Ein Auto fährt dicht hinter dem anderen, und wir können uns gar nicht vorstellen, wie man als Fußgänger die Straße überqueren soll, ohne überfahren zu werden. Wir fassen die kleine Schwester fest bei der Hand, damit sie uns nicht verloren geht. Da kommt eine Lehrerin mit einer Mädchenklasse in schwarzen Schulkitteln mit weißen Kragen daher. Auch sie wollen über die Straße. Die Lehrerin stürzt sich, ihren Regenschirm schwingend, in das Autogewühl, die Mädchen folgen hinterher, und siehe da, alle Autos halten an. Die Straße ist frei, und wir schließen uns den Schulkindern an. Nun schauen wir uns die große Stadt näher an, die schönen breiten Straßen, die hohen Häuser und die prächtigen Geschäfte, in deren Schaufenstern die verlockendsten Dinge ausgelegt sind. "Aber wo können denn die Kinder spielen?" fragt die kleine Schwester. Nun, keine Sorge, die Kinder in Paris haben es gut. Sie dürfen in allen Parks und auf allen Plätzen der Stadt herumtoben. Ja, sie laufen sogar über die Rasenflächen, ohne dass jemand schimpft. In den Brunnen lassen sie ihre Schiffchen schwimmen, und die Erwachsenen sitzen auf seltsam verschnörkelten Eisenstühlchen und schauen zu. In vielen Parks kann man Rollschuhe, Fahrräder, Roller und Ponys zum Reiten mieten. In Paris ist sehr viel zu sehen. Wir sperren die Augen weit auf, damit uns nichts entgeht. Nicht alle Straßen der Stadt sind breit und reich. Es gibt auch Viertel mit ganz engen und ärmlichen Gassen. Eine davon ist die "Rue Mouffetard", eine sehr lustige Straße. Sie wird noch enger dadurch, dass weit auf den Damm hinaus Verkaufsstände ragen. Hier gibt es alles zu kaufen, was das Herz begehrt: Gemüse, Backwaren, Bücher, Schuhe, Fleisch, Spielzeug. Die kleine Schwester hält sich die Nase zu, weil es hier nach Käse riecht und dort nach Fisch. Ein Hummer ist aus einem niedrigen Korb gekrabbelt und marschiert die Straße entlang. Vor einem Stoffgeschäft stehen hübsch bekleidete Schaufensterpuppen. Manche sind schwarz, weil hier auch viele Negerinnen einkaufen. Oberhaupt sieht man Menschen aller Rassen. Inderinnen mit Saris in leuchtenden Farben, Türken mit dem roten Fez auf dem Kopf, Chinesen und Neger drängen sich zwischen den Ständen. Aber wir haben noch längst nicht alles in Paris gesehen. Plötzlich stehen wir vor dem Eiffelturm. Wie winzig die kleine Schwester vor seiner ragenden Höhe aussieht! "Der Turm ist 1889 aus Anlass der Pariser Weltausstellung von einem Herrn Eiffel gebaut worden", erklärt uns ein Herr. "Er ist dreihundert Meter hoch. Wenn ihr's mir nicht glaubt, könnt ihr nachmessen. In Paris wird nämlich das Normal-Metermaß aufbewahrt, nach dem alle anderen Maße sich richten müssen." Wir fahren mit dem Fahrstuhl auf den stählernen Turm hinauf. Von oben hat man einen herrlichen Blick über die ganze Stadt, durch die sich der blitzende Fluss, die Seine, windet. Mitten in der Stadt wird die Seine breit, teilt sich in zwei Arme und umschließt eine Insel. Auf dieser Insel steht die schönste und größte Kirche von Paris, die ,Notre Dame'. Sie ist achthundert Jahre alt. Weil sie so schön ist, wird sie sehr oft gemalt. Eben, als wir sie betrachten, sitzt auch ein Mann mitten auf dem Pflaster, hat eine Leinwand ausgebreitet und malt. Ein hübsches junges Mädchen mit einem Karton unter dem Arm beachtet die schöne Kirche gar nicht. Es ist wohl eins der vielen Pariser Nähmädchen und bringt gerade ein neues Kleid zu einer Kundin. Paris ist in der ganzen Welt berühmt für seine Mode. Leider müssen wir nun von Paris Abschied nehmen. Von dem berühmten Triumphbogen gehen strahlenförmig viele Straßen aus, und eine davon führt uns jetzt nach Versailles. Bald stehen wir vor dem prächtigen Schloss. " Wo geht es zum Spiegelsaal?" fragen wir einen vorbeikommenden Schutzmann, denn Pierre und Annette haben uns gesagt, dass wir ihn uns unbedingt ansehen müssten. Der Schutzmann nimmt seine Zigarette aus dem Mund und erklärt uns liebenswürdig den Weg. Die kleine Schwester schaut ihn bewundernd an. Sie wollte schon immer einen der französischen Schutzmänner aus der Nähe sehen, die so elegant den Pariser Verkehr regeln. Sie winken einfach mit einem weißen Stöckchen... hierin, dorthin, als wäre es ein Kinderspiel, und schon entwirrt sich das Durcheinander von Autos und Fußgängern. Aber nun wendet sich der Schutzmann der kleinen Schwester zu, macht eine tiefe Verbeugung und sagt: "Au revoir, Mademoiselle!" Auf Wiedersehen, mein, Fräulein! Ach, wie ist die kleine Schwester stolz! Sie ist so stolz, dass sie ganz allein durch den riesigen, prunkvollen Spiegelsaal des Schlosses geht, das der mächtige französische König Ludwig XIV. erbauen ließ. Der Saal schimmert von Glas, Gold und Kristall. Es ist von allem ein wenig zu viel, finden wir. Da gefällt uns der große Park hinter dem Schloss doch besser und vor allem das kleine "Trianon", ein Schlösschen, in dem sich die Königin Marie Antoinette besonders gern aufhielt. Daneben ließ sie eine kleine Mühle, eine Meierei und ein Bauernhaus bauen, um manchmal für kurze Zeit hier Bäuerin zu spielen, wenn sie das Königinsein einmal satt hatte. Weiter, weiter fahren wir durch das ganze Land. Viele herrliche Schlösser sehen wir an dem Fluss Loire und seinen Nebenflüssen, schöne Kirchen und Klöster. Die Schlösser und Klöster haben oft sehr kunstvolle Gärten. Ganz anders sieht es dann im Gebirge aus. Die kleine Schwester starrt den Mont Blanc, Frankreichs, ja Europas höchsten Berg, an und sagt: "Der ist ja höher als der Eiffelturm!" - "Sechzehnmal so hoch!" lachen wir. Mit einer Bahn, von der aus wir mit Herzklopfen tief unten winzige Spielzeugdörfer sehen, fahren wir auf einen anderen Berg und können von hier ganz deutlich die Hänge des Mont Blanc betrachten, auf dem, jetzt im Sommer, hoher Schnee liegt. Aber nach ein paar Tagen haben wir den Schnee des Mont Blanc fast vergessen, denn wir braten in der Sonne und schwimmen im tief dunkelblauen Meer. Auch das ist Frankreich. Wir sind am Mittelmeer, dessen Küste hier ,Riviera' genannt wird. Wir staunen über die wunderbar üppigen Blüten, über Palmen und Kakteen, die wir bis jetzt nur im botanischen Garten gesehen haben. Gern schauen wir den Fischern zu, wenn sie vom Fang kommen. Sie bringen schöne Fische heim, die uns ganz fremd sind. Manche sind groß und walzenförmig, manche schlank und silbrig glänzend, andere zart rosa, grün oder violett. Die Fische schmecken viel besser als unsere Nordseefische, aber es gibt viel weniger als bei uns, und darum sind sie teuer. Zum Mittagessen probieren wir Tintenfisch, dieses seltsame Tier, das im Wasser bei Gefahr einen tinten farbigen Stoff verspritzt, so dass sich das Wasser trübt und das Tier verbirgt. Lebend sieht es mit seinen sich windenden, schlangenartigen Armen unheimlich aus. Ob es schmeckt? 0 ja, es schmeckt so gut, dass wir gar nicht genug davon bekommen können. Der Fisch ist knusprig gebraten und mit Zitrone überträufelt. Am Kai sitzen kleine Buben auf Eimern und angeln. Sie fangen winzig kleine Fischlein, die sie stolz in einer alten Büchse nach Hause tragen.
Wir wissen nun schon, dass es in Frankreich viel Wein gibt und sogar die Kinder ihn gern trinken; wenn es auch nicht allen französischen Kindern so ergeht wie dem König Heinrich IV., dem sein Vater gleich nach der Geburt Wein zu trinken gab, um ihm ,Frankreichs Kraft' einzuflößen. Daher sind wir nicht überrascht, als wir im Hafen von Bordeaux Hunderte und aber Hunderte von Fässern aufgestapelt sehen. Hier wird der Wein auf Schiffe geladen und ins Ausland geschickt. Die französischen Weine sind in der ganzen Welt berühmt, besonders der Rotwein von Bordeaux. Wir kaufen eine Flasche davon, um sie unserem Vater von der Reise mitzubringen. Und dann kaufen wir uns noch jeder eine der hübschen Baskenmützen, die nach den Bewohnern dieser Gegend heißen. Die Basken tragen die runden Tellermützen immer und überall, auf dem Dorf, in der Stadt, auf dem Felde und beim Fischen im Atlantik, aus dem sie die Sardinen fangen, die wir so gern in Öl eingelegt essen.
Etwas sehr Seltsames sehen wir eines Tages in der Bretagne an der nördlichen Atlantikküste. In langen, parallelen Reihen stehen hier Granitsteine, die uralt sind. Man weiß nicht mehr, welchen Sinn diese ,Menhire' haben, ob sie einst als Opfer- oder Gebetsteine errichtet wurden, oder ob sie Erinnerungsmale an Verstorbene darstellten. Grabmale aus jüngerer Zeit befinden sich auf einem großen Friedhof. Endlose Reihen von Kreuzen ziehen sich über den Platz. Als wir näher hinschauen, entdecken wir, dass alle Kreuze deutsche Namen tragen. Hier sind deutsche Soldaten bestattet, die im Ersten und zweiten Weltkrieg in Frankreich gefallen sind. Die ehemaligen Gegner pflegen die Gräber liebevoll. Sie denken nicht mehr daran, dass unsere Völker sich einst feindlich gegenüberstanden. Warum sollten wir uns auch hassen? Wir haben das fröhliche, gastfreundliche Volk der Franzosen so gern, und sie mögen uns auch, das merken wir immer wieder. Niemals könnten wir gegen Pierre und Annette in den Krieg ziehen; sie sind doch unsere Freunde! Unsere Reise nähert sich dem Ende. Wir haben Frankreich lieb gewonnen, seine verschiedenartigen Landschaften, seine alten und neuen Bauten, seine Dörfer und Städte und seine liebenswürdigen Menschen, die die Kinder so gern haben. Berühmte französische Künstler haben für Kinder Musik geschrieben, gedichtet und gemalt. Lafontaine schrieb seine wunderbaren Tierfabeln und der Dichter Saint-Exupery die anmutige Geschichte vom "kleinen Prinzen". Der Maler Renoir malte vor etwa achtzig Jahren das Bild "Der Nachmittag der Kinder". Die Kleider der Kinder kommen uns etwas altmodisch vor, aber sie selber sehen nicht viel anders aus als Pierre und Annette. Der Zug dampft aus dem Bahnhof in der Richtung nach Deutschland. Die kleine Schwester beugt sich weit aus dem Fenster und winkt. "Au
revoir, Madame la mere et Monsieur le pere!" |