|    Abbé Pierre
          Es war der Aufmacher in allen Nachrichtensendungen: Frankreich  weint, sagte die Sprecherin in schwarzer Bluse. Weint um Abbé Pierre,  den Armenpriester, das soziale Gewissen des Landes. 
  Die Kunden in einem  Pariser Zeitungskiosk können es kaum glauben: "Abbé Pierre ist tot.  Nein, er ist doch nicht tot! Das kann nicht sein…" Doch, antwortet die  Zeitungsfrau, leider: "Das war ein großer Mann! Er hat viel für die  Armen getan, er hatte viel Mut. Ein ganz Großer! Er wird uns sehr  fehlen!" Kampf gegen Armut und ObdachlosigkeitDicke Hornbrille, weißer Vollbart, hagere Gestalt, zuletzt meist im  Rollstuhl. Kaum ein Franzose, der Abbé Pierre nicht kannte. Immer  wieder wurde er zu einem der beliebtesten Männer im Land gewählt, noch  vor Zinedine Zidane. 
 Als Henri de Grouès 1912 in Lyon geboren, trat er mit 19 dem  Kapuzinerorden bei. Während des Zweiten Weltkriegs war Abbé Pierre im  Widerstand aktiv, half Juden bei der Flucht. Bekannt wurde er aber vor  allem durch die Hilfsorganisation Emmaus, die er nach dem Krieg ins  Leben rief. Seitdem kämpfte er gegen Armut und Wohnungsnot in  Frankreich. Ein dramatischer Appell Abbé Pierres im Radio brachte 1954 eine  Volksbewegung ins Rollen: "Freunde zur Hilfe! Eine Frau ist auf der  Straße erfroren..." Eine riesige Spendenwelle setzte ein. Heute kümmert  sich seine Emmaus-Stiftung um Kranke, Arme, Obdachlose und  Strafentlassene in mehr als 30 Ländern. Streitbar blieb der 94-jährige  bis zuletzt, wenn er Politiker aller Couleur mahnte: "Wenn Sie  wichtigen Dingen weiterhin keine Priorität einräumen, werden sie  mitverantwortlich sein für menschliche Katastrophen!" 
 Auch innerhalb der katholischen Kirche sparte Abbé Pierre nicht mit  Kritik. Er trat gegen den Zölibat ein und für Empfängnisverhütung. Mit  einem Geständnis sorgte er 2005 für Aufregung - ja, schrieb Abbé Pierre  in einem Buch, er habe selbst "sexuelle Begegnungen" gehabt.  Doch  Sympathien kostete ihn diese Offenheit nicht, im Gegenteil. "Er wird  uns allen fehlen", würdigte Premierminister Dominique de Villepin den  Armenpriester. Präsident Jacques Chirac sprach von seiner tiefen  Zuneigung für Abbé Pierre und davon, dass ganz Frankreich tief berührt  sei. Die letzte Solidaritätsbewegung für Obdachlose in Frankreich hat  Abbé Pierre nicht mehr kommentiert. Aber genau das, einklagbares Recht  auf Wohnen, hat er immer wieder gefordert. In einem seiner letzten  Fersehnauftritte beschrieb Abbé Pierre sein Lebensmotto: "Das Leben,  das ist ein bisschen Zeit, frei zu sein und Liebe zu lernen!"   |