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Limousin in Frankreich

 

 

 

 

Die Menschen im Limousin schert es nicht, dass man sie als Hinterwäldler ansieht. Sie halten im Herzen Frankreichs die Kunst des Wunderheilens am Leben – und die schwarze Magie

Etwas stimmt nicht, als Pierre Louty die Tür öffnet. Seine Augen blicken der Besucherin fest ins Gesicht, aber die Hand streckt er nur vage in die richtige Richtung. Auf dem Weg in den Salon sagt er, dass er vor einigen Jahren erblindet ist.

Später, ganz zum Ende des Gesprächs, wird Louty den Grund nennen. »Ich habe mein Augenlicht wegen der Hexerei verloren.« In seinen Büchern habe er sich mit der Magie beschäftigt, »und ich habe einiges darüber verraten«.

Man dürfe die Hexen nicht zu sehr reizen. »Manchmal ärgert sie das, und dann schlagen sie zurück.« Pierre Louty ist Ende fünfzig, studierter Pädagoge. Bevor er gesundheitsbedingt in Pension gehen musste, hat er Grundschulkinder in Limoges unterrichtet. Seither diktiert er Bücher über die Bräuche des Limousins. Ein großer Teil dieser Bräuche hat mit Zauberei zu tun.

Von Paris aus fährt der Zug gut drei Stunden nach Süden bis Limoges, der Hauptstadt des Limousins, Département Haute-Vienne. Die Landschaft wird immer hügeliger, immer weniger Häuser, immer mehr Felder und Büsche. Darunter harter Granit. Der Limousin gilt als der ärmste Landstrich Frankreichs. Das französische Verb limoger bedeutet »jemanden in die Provinz abschieben«.

Für Maggy Sègue hingegen ist Limoges mit seinen 184.000 Einwohnern die größte Stadt, in der sie je gelebt hat. Vor über fünfzig Jahren ist sie in ein kleines Dorf in der Nähe von Saint-Laurent-sur-Gorre gezogen, zu ihrem Mann.

Das ist Provinz. Die Nachbarn haben sie geschnitten, weil sie aus der Stadt kam. Zum Glück sprach sich bald herum, dass Maggy le don hat – »die Gabe«. Dann kamen die Nachbarn doch zu ihr. Das ist lange her.

Bis heute ist Maggy eine hübsche Dame, die weißen Locken hat sie zu Kringeln gedreht. Auch wenn sie nur in den Garten geht, um mit ihren Ziertauben zu turteln, zieht sie sich adrett an. Schon lange kommen auch Leute zu ihr, die sie gar nicht kennt. Maggy hat die Gabe, »Feuer zu ziehen« – mit einer Handbewegung soll sie schwerste Verbrennungen heilen können.

»Mit dem Daumen ziehe ich einen Kreis um die Partie, die verbrannt ist. Das mache ich dreimal, dann puste ich dreimal. Man muss immer vom Körper weg pusten. Ich sage dreimal dieselbe Formel, und ich puste dreimal.« Gelernt hat sie das von ihrem Vater, der auch die Gabe hatte, ebenso wie die Großmutter. Die Formel wird in Patois gesprochen, dem alten Dialekt der Bauern.

»Untereinander sind wir hart wie der Granit unter unseren Füßen«

Die Gabe ist im Limousin allgegenwärtig. Jeder kennt einen Heiler oder weiß zumindest, wen man danach fragen kann. Die Gabe hat verschiedene Ausprägungen. Es gibt Wundheiler, Magnetiseure und Einrenker.

Es soll auch Leute geben, die die Gabe benutzen, um Nachbarn oder Familienangehörige zu verfluchen. Aber über schwarze Magie spricht hier niemand gern. Manche haben darüber Geschichten gehört. Nur eins ist sicher: Wenn man Namen nennt, wird alles noch viel schlimmer.

Bis weit in die 1950er Jahre lebten im Limousin arme Kleinbauern. Die einzige Industrie stellt das Porzellan her, mit dem Limoges berühmt geworden ist.

Im 20. Jahrhundert gab es zudem ein bisschen Lederwarenindustrie, sie brachte den Bauern Heimarbeit. Aber die meisten Betriebe sind geschlossen, bloß die letzte Handschuhfabrik in Saint-Junien versorgt die Couturiers in Paris noch mit hochwertigen Handschuhen.

Als eine der letzten Regionen des Landes hat der Limousin in den 1960er Jahren einen Autobahnanschluss bekommen. Die Isolation wirkt bis heute: Touristen übersehen die Region meistens. Dabei gibt es in vielen Dörfern rustikale gîtes, Ferienwohnungen, einige sind vom WWF als besonders ökologisch zertifiziert.

Manche liegen so einsam, dass man sich unter Vermietern erzählt, Verbrecher auf der Flucht stiegen dort ab. Im Limousin wird viel gemunkelt. Die Menschen sagen von sich, sie seien nicht sehr offen. »Untereinander sind wir hart wie der Granit unter unseren Füßen«, meint Pierre Louty.

Die Landschaft hat die Menschen geprägt. Wenn man aus dem Fenster schaut, sieht man nur Bäume und Hügel. Das nächste Dorf ist meist in einer Senke verborgen. Zu Fuß kommt man hier nicht weit. Darum konnte früher bei Streitigkeiten nicht jeder seiner Wege gehen.

Man blieb beisammen und entlud seinen Zorn, indem man den bösen Nachbarn verwünschte. Wenn dem dann etwas zustieß, wurde schnell von Hexerei geredet. Traf es den anderen, war vielleicht ein noch stärkerer Gegenzauber im Spiel.

So deutete man damals magisch, was man heute psychologisch erklärt: die ganz normalen Konflikte einer dörflichen Gesellschaft. Die Gabe war dabei besonders wichtig, denn sie allein konnte einen Fluch lösen und die Ordnung wiederherstellen. Das Übersinnliche musste auch helfen, wenn jemand ohne Fluch erkrankte. Ärzte gab es kaum, und sie waren teuer. Mochten andere auf den Beistand von Göttern und Halbgöttern hoffen, im Limousin half man sich selbst.

Wenn eine Verbrennung sehr garstig aussieht, schickt die Heilerin Maggy die Leute nach ihrer Behandlung zum Arzt. »Zur Sicherheit, damit es keine Infektion gibt.« Geld nimmt sie nicht. Das Heilen sei eine Medizin aus der »alten Zeit«, sagt Maggy.

Dabei hätten die Leute das Gefühl, mit einem größeren Wissen in Verbindung zu stehen. Das tröste die Verletzten. Die Limousiner sind modern geworden. Aber sie haben immer noch eine große Vorliebe für die alte Zeit.

Wenn die Glocken der Kathedrale von Saint-Junien Mittag schlagen, schließt Jean-Claude Aréna seine Herrenboutique und geht die paar Schritte zu seiner Wohnung. Sie liegt in einem Flügel des früheren Klosters.

Aréna hat die Wände mit lindgrüner Japantapete überzogen. Er ist eine kleine Berühmtheit im Städtchen. Seine Leidenschaft gilt den bonnes fontaines. Manche dieser »guten Quellen« stammen aus keltischer Zeit, als das Wasser verehrt wurde. Sie sollen bei Krämpfen, Gürtelrose oder Depressionen helfen.

Aréna ist sofort bereit, von den magischen Ritualen zu erzählen. »Ich sehe das als meine Aufgabe an.« Er ist Lokalpatriot. Das solle man nicht missverstehen, er habe nichts gegen die EU. Aber um in Europa nicht unterzugehen, dürfe man als Franzose seine regionalen Eigenheiten nicht aus den Augen verliere.

Bei den guten Quellen seien vor allem drei Dinge wichtig: dass man die richtige Quelle finde, dass man sie auf die vorgeschriebene Weise umrunde – und dass man den Rosenkranz dabei habe. Für Ersteres empfahlen sich einst die recommandeuses, die Fürbitterinnen.

Mit allerlei magischen Beschwörungen brannten sie einen Haselzweig über einer Schüssel Wasser ab und murmelten dabei die Namen der Quellen. Wenn die Kohle ins Wasser fiel, war die richtige Quelle ermittelt.

Für die korrekte Umrundung war die voyageuse zuständig, eine Art magische Reiseleiterin. Aber warum man zu einer Quelle aus vorchristlicher Zeit einen Rosenkranz mitnehmen muss, kann Jean-Claude Aréna nicht sagen. So sind nun mal die Rituale und die Tradition.

Der Limousin wurde später und weniger entschlossen christianisiert als andere Regionen Frankreichs. Die Bauern hatten nie viel für den lieben Gott übrig. Möglicherweise kam ihnen eine Religion, in der man die andere Wange hinhalten soll, wenn man geschlagen wird, zu lasch vor.

Viele Limousiner, die in einem Dorf aufgewachsen sind, erinnern sich an Familienfehden und Kleinkriege, die über drei, vier Generationen aufrechterhalten wurden. Pierre Louty betont den keltischen Ursprung der Limousiner. »Natürlich ist das 2000 Jahre her. Aber was sind 2000 Jahre in der Geschichte der Menschheit?«

Keltentum steht bei ihm dafür, dass man sich niemandem unterwirft, nur den Mächten der Natur. Als die Bauern im frühen 20. Jahrhundert ihre Felder verließen, um in den Porzellan- und Lederfabriken zu arbeiten, wurden sie direkt Kommunisten. Bis heute heißt der Platz vor der Kathedrale in Saint-Junien Place Lénin, davon geht die Avenue Karl Marx ab. Seit 1920 gehört jeder Bürgermeister des Städtchens der kommunistischen Partei an, die meisten anderen Orte der Region werden ebenfalls rot regiert.

Die alte Zeit hat kein Datum. Der alltägliche Wunderglaube des Limousins verbindet heute Elemente aus allen Epochen der Geschichte. In der Isolation konnte sich die keltische Naturreligion mit dem dörflichen Aberglauben des 17. und 18. Jahrhunderts vermischen.

Um die Bevölkerung an sich zu binden, weihten die Priester im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Drittel der guten Quellen ihren eigenen Heiligen. Auch der Marienkult hat Eingang in das magische Brauchtum gefunden.

In einem waldigen Tal am Dorfrand von Saint-Auvent ließ ein Abt in den 1950er Jahren die Grotte von Lourdes nachbauen, weil die Muttergottes seine Gemeinde vor Kriegsschäden bewahrt hatte. Seither ist die Sainte Marie de la Paix ein beliebtes Ziel für Familienausflüge. Gelegentlich finden Prozessionen statt. Aber es stört auch niemanden, wenn Kinder mit Mountainbikes über den nachgebauten Kreuzweg preschen. Es geht nicht so sehr um Andacht. Es geht um Tradition.

Eine Atheistin, die betet – das stellt im Limousin keinen Widerspruch dar

Maggys uralte Heilformel ist ein Gebet: »Ich erbitte etwas von einem höheren Wesen.« Aber sogar sie besteht darauf, Atheistin zu sein. »In meinem Haus finden Sie kein einziges Heiligenbild.« Im Limousin ist das kein Widerspruch. Die Limousiner wissen, dass sie in Paris auch wegen ihrer magischen Tradition als Hinterwäldler gelten. Das ist ihnen egal. Zum Heiler statt zum Arzt zu gehen ist ein gutes Mittel, um dagegen zu protestieren, dass alles immer gleicher wird, in Frankreich und in ganz Europa.

Die Glocken der Kathedrale von Saint-Junien läuten noch einmal. Jean-Claude Aréna schließt das Geschäft für den Abend. Dann geht er ins Café, wo er mit Jugendlichen aus dem Städtchen öfter ein Bier trinkt.

Nebenbei erzählt er ihnen von den guten Quellen. Das sieht er als eine Art patriotische Pflicht. »Es ist wichtig für die jungen Franzosen«, sagt er. »Irgendwoher müssen sie schließlich wissen, wo ihre Wurzeln sind.«