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Das Poitou - Charentes - Das Sumpfgebiet des Marais Poitevin

 

 

 

Das Sumpfgebiet des Marais Poitevin ist Idyll und Irrgarten zugleich. Mit einem Boot lassen sich die entlegenen Ecken des Naturparadieses am besten entdecken - allerdings nur unter Anleitung eines Ortskundigen.

Der Kahn gleitet im selben Tempo wie die Ente, die gemächlich zwei Meter vor uns herschwimmt. Nur das leise Glucksen des Paddels ist zu hören. Der Wind rauscht durch die Pappeln, die ein grünes Dach über dem Kanal bilden. Eine Eichel fällt mit lautem "Plopp" in das grünbraune Wasser, auf das die Abendsonne goldene Schuppen gelegt hat. "Ein Sumpfbiber", sagt unser Fährmann und zeigt auf den struppig braunen Kopf mit den kleinen schwarzen Augen, der am Ufer entlang schwimmt, ins Wurzelwerk einer Esche abtaucht und einen Kringel auf der Wasseroberfläche zurücklässt.

Michel Chollet sitzt am Heck des schwarzen Kahns. Sein Gesicht ist tief und gleichmäßig gebräunt, sein weißes Haar voll und kräftig. Vorhin, an Land, ging er langsam und ein wenig gebeugt, seine hagere Gestalt ließ ahnen, wie viel dieser Bauer in seinem Leben schon gearbeitet hat. Jetzt sitzt er aufrecht, steuert den fünf Meter langen Kahn mit gleichmäßigen Paddelschlägen souverän durch den schmalen Kanal, und kaum jemand käme auf die Idee, dass Monsieur Chollet schon 78 Jahre alt ist. Bis zu seinem 61. Lebensjahr hatte er 25 Kühe. Jetzt schippert Chollet Touristen durch die Kanäle, die sich in den Zimmern seines niedrigen weißen Häuschens in Coulon eingemietet haben. Ein englischer Bed & Breakfast-Führer empfiehlt ihn: "Good sense of humor, but no English" - versteht Spaß, aber kein Englisch.

Monsieur Chollet hat sein ganzes Leben im Marais Poitevin verbracht. Dieses Feuchtgebiet liegt nordöstlich von La Rochelle und erstreckt sich über 100.000 Hektar zu beiden Ufern eines trägen Flüsschens namens Sèvre Niortaise. Das Naturparadies des Marais, das die Reisenden verzaubert, ist in Wahrheit eine Kulturlandschaft. Im 11. Jahrhundert begannen Benediktinermönche, den großen Sumpf urbar zu machen. Sie gruben Kanäle, bauten Deiche und unterteilten die Schwemmlandebene in zwei Zonen, eine trockene (Marais Desséché) und eine feuchte (Marais Mouillé). Die Genialität dieses Plans ist auch tausend Jahre später noch beeindruckend: Im trockengelegten Teil wird bis heute auf riesigen Feldern Getreide angebaut.

 

Das Marais Mouillé regelt hier den Wasserhaushalt: Im Winter nimmt es wie ein riesiger Schwamm den Regen auf. Das ganze Feuchtgebiet wird überflutet, das Wasser schwappt bis zu hundert Mal pro Jahr an die Schwellen der Häuser. Über das mehrere tausend Kilometer lange Gitternetz der Kanäle fließt es langsam ab, und im Sommer versorgt das Marais Mouillé die Kornfelder des Marais Desséché mit Feuchtigkeit.

Michel Chollet ist kein Mann der großen Worte. Aber nach einer Stunde, als wir immer tiefer in das Labyrinth der Kanäle eingedrungen sind, einen Eisvogel und zwei Rehe gesichtet haben, sagt er: "Jetzt zeige ich Ihnen etwas Spektakuläres." Er steuert den Kahn in eine kleine Anlegebucht, steigt aus und hüpft wie ein Junge beidbeinig auf der Wiese, auf der ein Dutzend schokoladenbrauner Kühe grast. Mit verblüffender Wirkung: Die Erde vibriert, die Blätter an den Zweigen der Eschen zittern, als ob ein Riese aufgestampft hätte. Nicht nur die Rinder machen große Augen.

Die schwarzen Böden des Marais Mouillé haben ihren moorigen Charakter bewahrt. Die Häuser sind ohne Fundament gebaut und nur anderthalb Stockwerke hoch. Maueranker und Eisenstangen halten sie aufrecht, trotzdem steht manche Wand nicht mehr im Lot. Bis ins 20. Jahrhundert verdammte der schwankende Boden das Marais zu einem rückständigen Winkel, heute erweist sich das als Segen: Trotz des florierenden Tourismus verschandelt kein einziger Hotelklotz das so genannte grüne Venedig.

Kanäle ersetzten die Straßen

Jahrhundertelang war der Kahn das wichtigste Fahrzeug im Marais. Kanäle, die manchmal nur einen halben Meter tief sind, ersetzten die Straßen, auf ihnen wurden die Boote mit einer Stange vorwärts gestakt. Der Bäcker verkaufte das Brot vom Kahn, die Bauern schipperten sonntags zur Messe - an der romanischen Kirche von Coulon ist noch die Außenkanzel zu sehen, von hier predigte der Pfarrer seiner schwimmenden Gemeinde. Mit dem flachen Kahn aus Eichenholz, am Bug breit und am Heck schmal, ging man auf Entenjagd, legte Aalreusen aus und holte die Rinder von den Weiden, wenn sie schlachtreif waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Coulon 300 Bauern. Heute sind es noch acht. Sie transportieren ihr Vieh in einem motorgetriebenen Binnenschiff. Mit den alten traditionellen Kähnen fahren heute nur noch Touristen. Viele brechen ohne Fährmann zu einer Bootspartie auf.

Erst kürzlich hat wieder einer das Marais unterschätzt: Zwar ragt an jeder Kanalkreuzung ein Pfahl mit grünen Wegweisern aus dem Wasser. Aber ohne detaillierte Landkarte verfranste sich der Amateur- Gondoliere schnell in den Kanälen, Notruf via Telefon war zwecklos, auf den Kanälen findet das Handy kein Netz. Die Feuerwehr rückte aus, die einheimischen Angler halfen suchen. Nachts um eins lief der Mann, der für eine Stunde einen Kahn gemietet hatte, schließlich wieder in den Hafen ein. "Die Grünen sind mir zu grün", stellt Jacques Renaud schon am Ufer klar. "Warum soll ich zu Fuß gehen, wenn es Autos gibt?" Beim Sprechen wippt eine Zigarette zwischen seinen Lippen, eine Goldkette baumelt am Hals, ein breitkrempiger Abenteurerhut gibt dem hageren Gesicht des 53- Jährigen Schatten. Er sitzt im Heck eines schlanken weißen Kanus und paddelt. Der Bug hebt sich elegant aus dem Wasser des Canal du Mignon.

Renaud hat das Kanufahren bei einem Indianer in Kanada gelernt - sein Boot fährt nicht diese Zickzacklinie wie unseres, er muss sein Paddel auch nicht mal rechts und mal links eintauchen, um auf Kurs zu bleiben. Seit 20 Jahren bietet er Touren im Marais an. Wer möchte, kann mit ihm eine Woche durch die conches und rigoles - so heißen die kleinen Kanäle - gleiten, manchmal 18 Kilometer am Tag.

Jacques Renaud kämpft für das Marais und gegen einen an sich unschuldigen Gegner: den Mais. Ein Bauer, der Mais anbaut, bekommt zehnmal so viel Subventionen wie einer, der die Prärien des Marais Mouillé extensiv mit Rindern beweidet. So verschwindet ein Hektar nach dem anderen unter dem Pflug, Gräben und Kanäle werden zugeschüttet, und für die künstliche Bewässerung der Maisfelder gibt's noch einmal staatliche Beihilfen. Jacques Renaud sieht seinem Kanu-Tourismus das Wasser abgegraben: "Das Marais muss als einzigartige Landschaft erhalten bleiben."

Er deutet mit der Zigarette im Mundwinkel nach links. Der schmale Stichgraben zwischen zwei brachliegenden Parzellen verlandet. "Wenn der Wasserkreislauf unterbrochen wird, bekommen wir hier ein Problem", sagt Renaud. Die Sèvre hat streckenweise nur einen Zentimeter Gefälle pro Flusskilometer, entsprechend träge fließt das Wasser in den Kanälen.

Überschwemmungen reinigen die Gewässer

Deshalb sind die Überschwemmungen im Winter so wichtig für die Reinigung der Gewässer: Die Flut schafft Pflanzenreste und Tierexkremente weg. Kann das Wasser nicht abfließen, weil Gräben nicht mehr gesäubert und offen gehalten werden, bilden sich Tümpel mit stehender Brühe.

Eine dichte grüne Decke liegt rings um uns: Wasserlinsen bedecken den ganzen Kanal. Wenn die Enten vom Gründeln auftauchen, hängen die kleinen grünen Pflanzen, die in der Tat wie Linsen aussehen, an ihrem Gefieder. Jacques Renaud zeigt nach hinten: "Seht mal, wie schnell sich die grüne Decke wieder schließt." Schon zehn Meter zurück ist nicht mehr zu sehen, dass unsere Kanus den Pflanzenteppich geteilt haben. "Die Wasserlinsen sind ein Zeichen für gute Wasserqualität", erklärt er, "und sie sind wichtig für das Marais: Sie verhindern, dass die Stechmücken sich ausbreiten können. Ohne Wasserlinsen würde es hier von Mücken nur so wimmeln."

Schon immer glich das Marais Poitevin einem Schwamm, der von den herrschenden Kräften eines Zeitalters ausgequetscht wurde. Im Hundertjährigen Krieg (1337-1453) kamen die Erschließungsarbeiten zum Erliegen, während der Kämpfe um die richtige Religion drohten die Felder wieder zu versumpfen. Henri IV. holte holländische Ingenieure, die neue Kanäle anlegten. Im 17. Jahrhundert warf die katholische Reaktion diese Protestanten wieder hinaus, bevor die Arbeit beendet war. Heute erinnert noch der Hopfen an die Holländer. Sie hatten ihn zum Bierbrauen mitgebracht, jetzt rankt er sich wild und zartgrün zwischen den Eschen an den Kanälen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ließ Napoleon I. die Sèvre begradigen, um den Flusshandel zu fördern. An beiden Ufern unseres Kanals sind noch die Treidelpfade zu sehen, auf denen Männer die Boote mit Seilen ziehen mussten, bis ihre Arme knapp über dem Boden hingen. Ein paar Jahrzehnte später kam die Eisenbahn und machte den Fluss als Handelsweg überflüssig.

Heute sitzt ein Angler am Ufer der Sèvre Niortaise, als ob das Fremdenverkehrsbüro ihn dafür bezahlen würde, sein Bauch spiegelt sich im Wasser. Der Tourismus prägt das Marais. Und erweist sich als Chance: Ein nachhaltiger Fremdenverkehr kann die Kulturlandschaft retten, vorausgesetzt, seine Förderer setzen sich gegen die Lobby der Maisbauern durch.

Auf dem Wasser ist es so still, dass wir das leise Knispeln hören, wenn die Kanus den grünen Teppich der Wasserlinsen durchschneiden. Der Duft der wilden Minze liegt in der Luft. Zwei Schwäne haben ihre Köpfe ins weiße Gefieder gesteckt. Als sie uns hören, fahren sie gleichzeitig in die Höhe. Aber nur für einen Augenblick. Dann winden sie die Hälse wieder zurück und dösen weiter.