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Literatur in Sanary-sur-Mer
Sanary-sur-Mer –"Hauptstadt der deutschen Literatur"
Wie kam es dazu, daß Sanary, ein Fischerdorf am Mittelmeer in der Nähe von Toulon, schlagrtig zur "Hauptstadt der deutschen Literatur" wurde, um auf einen humorvollen, vieleicht übertriebenen und vielleicht etwas verbitterten Ausdruck Ludwig Marcuses zurückzugreifen ?
Deutsche – und Osterreicher - in Sanary ...
In den Jahren nach der Machtergreifung Hitlers wollte man in diesem kleinen Dorf des Departements Var und in der nahen Umgebung - in Bandol, Saint-Cyr, Le Lavandou, La Ciotat – einen beträchtlichen Teil der Berliner, Münchner, Prager oder Intelligenz treffen : Heinrich Mann, Thomas Mann mit Frau und Kindern, Rene Schickele, Julius und Anne-Marie Meier-Graefe, Arnold Zweig, Lion und Marta Feuchtwanger, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, Ernst Toller, Bert Brecht, Alfred Kerr, Hermann Kesten, Friedrich Wolf, Wilhelm Herzog, Rudolf Leonhard, Robert Neumann, Bilder Olden, Willi Bredel, Franz Hessel, Alfred Kantorovvicz, Ludwig Marcuse usw.
Deswegen machte sich auch Fritz Landshoff, als er im Sommer 1933 auf Autorensuche für den Querido Verlag war, den er in Amsterdam neu gegründet hatte (bis zum Nlärz desselben Jahres war er Verlagsleiter bei Kiepenheuer in Deutschland), nicht auf den Weg nach London, Prag oder Paris, sondern nach Marseille, um von da aus nach Sanary zu fahren.
Dort engagierte er sofort H. Mann, A. Zweig, L. Feuchtwanger und E. Toller.
Man traf in Sanary jedoch nicht nur Schriftsteller an, sondern auch Maler wie Eugen Spiro, Walter Becker, Erich Klossowski, Anton Räderscheidt, Walter Bondy, Willy Eisenschitz und Prominente der Theaterwelt sowie der Berliner Kabaretts der zwanziger und dreißiger Jahre, wie die Sängerin Fritzi Massary und die Schauspielerin Lotte Lenya.
Das Dorf war einigen von ihnen schon lange vorher bekannt. Der renommierte Maler Moise Kisling und das mit ihm befreundete Ehepaar Salmon hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg Sanary zu ihrem Wohnsitz erwählt.
Schon 1907 hatte Andre Salmon die Provence und die Küste zwischen Marseille und Toulon "entdeckt". Sie hatten sich in Sanary niedergelassen, um Cassis und Saint-Tropen auszuweichen, das ihrer Meinung nach bereits zu sehr von der Boheme belagert wurde.
Ein anderer Maler, Rudolf Levy, der ebenfalls seit langem im Dorf lebte, schätzte vor allem die Schlichtheit der Bewohner und die herrliche Landschaft.
In den zwanziger Jahren strömten Künstler aus verschiedenen Ländern an die Küste ; unter anderem bildete sich um Aldous Huxley eine englische Kolonie. Einige von ihnen erregten Aufsehen, als sie in den Hafencafes hinter verschlossenen Türen Abendgesellschaften organisierten, bis einer von ihnen vom Bürgermeister sogar aus dem Ort verwiesen wurde.
Anfang der dreißiger Jahre kamen schließlich einige Deutsche, sie schätzten vor allem die Ruhe des Dorfes und die unvergleichlich schöne Landschaft. Um sie herum bildete sich bald darauf die Flüchtlingskolonie.
Zu diesen Neuankömmlingen, die noch keine Flüchtlinge waren, gehörten Julius und Anne-Marie Meier-Graefe, die sich 1930 in Saint-Cyr auf dem Gut "La Barette" niederließen, wo sie Erich Klossowski gelegentlich beherbergten.
Anfang 1932 überredeten sie Walter Bondy, der schon im Herbst zuvor geflüchtet war, nach Sanary zu kommen. Ebenso boten sie im selben Jahr den Schickeles ihr Haus als Zufluchtsstätte an, als diese Vorbereitungen trafen, aus dem Reich zu fliehen.
Zu erwähnen ist auch der Aufenthalt von Victor und Mathilde Tischler im Jahre 1932, die sich 1938 in Frejus niederlassen sollten.
Um Meier-Graefe und Bondy, die beide sowohl in den intellektuellen Kreisen von Berlin, Prag, Wien und auch Paris bekannt waren, scharte sich rasch eine Flüchtlingskolonie aus dem "Reich", vor allem nachdem Lion und Marta Feuchtwanger ihrerseits im Laufe des Jahres 1933 Sanary zum Wohnsitz erwählt hatten.
Sie wohnten zunächst in einem kleineren Häuschen, dann in der "Villa Vilmer", wo sie unter anderem von Toller und Brecht besucht wurden, bis sie, wie so viele andere, interniert wurden : Lion im Lager Les Milles 1939 und 1940 und Marta im Lager Gurs im Zuge der zweiten Internierungswelle im Frühjahr 1940. Schließlich konnten beide in die Vereinigten Staaten emigrieren.
Nach dem heutigen Stand der Forschung befanden sich zwischen Anfang 1933 und Ende 1942 über 500 Deutsche, Österreicher und andere Flüchtlinge im Deputernent Var, von denen über 80 Prozent in Sanary, Bandol und Le Lavandou konzentriert waren, wobei die Volkszählung von 1936 für diese drei Ortschaften eine Gesamtbevölkerung von kaum mehr als 10.000 Einwohnern ergibt.
Der provinzielle und ländliche Charakter sowie die entsprechend niedrigen Lebenshaltungskosten waren nicht zu vernachlässigende Motive für zahlreiche Flüchtlinge, sich für diese Gegend zu entscheiden.
Viele von ihnen befanden sich nämlich, bedingt durch Exil und das Verkaufsverbot ihrer Malerei und schriftstellerischen Werke: ini nationalsozialistischen Deutschland und später auch in den bestzten Ländern, in ernsten finanziellen Schwierigkeiten.
Ein Großteil derjenigen, die sich in dieser Ecke des Departements Var aufhielten konnte rechtzeitig ein feindlich gewordenes Frankreich verlassen, um nach Übersee, vor allem in die Vereinigten Staaten, zu fliehen.
Jedoch waren manche, wie Walter Bondy und Franz Hessel Ende 1939 so entmutigt, daß sie die Kraft zum Weiterleben verließ ; es gab solche, die die Fremdenlegion wählten, während andere von den Nazis und den französischen Milizionären auf ihrer Flucht gefaßt wurden und den Vernichtungslagern nicht entrinnen konnten, unter ihnen Friedrich Epstein, Else Weil, Hans Joachim ; und schließlich diejenigen, die ihr Engagement in der Resistance mit dem Leben bezahlten, wie Emil Alphons Rheinhardt oder der Arzt Julius Munk aus Le Lavandou ; letztlich all jene, die überlebten ...
Weiterführende Literatur
Jeanpierre Guindon, Sanary-sur-Mer — `Hauptstadt der deutschen Literatur",' in: Jacques Grandjonc/Theresia Grundteer (Hg.), Zone der Ungewißheit. Exil und Internierung in Südfrankreich 1933-44, Reinbek 1993, S. 27-76. (rororo-Sachbuch 8600, 3600-ISBN!' 3-499 19138-5) - Heinke Wunderlich/Stefanie Merke, Sanary-sur-Mer. Deutsche Literatur im Exil, Stuttgart 1996. (Verlag J.B. Metzler, ISBN 3-476-01440-1) - Manfred Flügge, Wider Willen im Paradies. Deutsche Schriftsteller im Exil in Sanary-sur-Mer, Berlin 1996. (Aufbau Taschenbuch 8024, ISBN 3-7466-8024-7)
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