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Hans Christian Andersen über Nimes

 

Durch die Provence, die mir ganz dänisch aussah, erreichte ich Nimes, wo die Größe des prächtigen römischen Theaters mich auf einmal nach Italien zurückversetzte. Südfrankreichs Denkmäler der Vorzeit habe ich nie so rühmen hören, wie sie es ihrer Größe und Anzahl wegen verdienen; das sogenannte viereckige Haus steht noch in seiner ganzen Pracht, wie der Theseustempel bei Athen; Rom hat nichts so Wohlerhaltenes.

In Nimes wohnt der Bäcker Reboul, der die allerliebsten Gedichte schreibt; wer ihn nicht aus diesen kennt, kennt ihn wohl aus Lamartines "Reise nach dem Orient". Ich fand das Haus, trat in die Bäckerei ein und wandte mich an einen Mann in Hemdärmeln, welcher eben Brot in den Ofen schob; es war Reboul selbst; ein edles Antlitz, welches einen männlichen Charakter ausdrückte, grüßte mich.

Als ich ihm meinen Namen nannte, war er höflich genug, zu sagen, daß er denselben aus der "Revue de Paris" kenne, und bat mich, ihn in der Mittagsstunde zu besuchen, dann würde er mich besser empfangen können. Als ich wiederkam, fand ich ihn in einem fast eleganten kleinen Zimmer, das mit Gemälden, Statuen und Büchern geschmückt war, die letzteren nicht nur aus der französischen Literatur, sondern auch Übersetzungen der griechischen Klassiker.

Ein Bild an der Wand stellte sein berühmtestes Gedicht, "Das sterbende Kind" dar; aus Marmiers "Chansons du Nord" wußte er, daß ich dasselbe Thema behandelt habe, und ich erzählte ihm, daß es aus meiner Schulzeit herrühre. Hatte ich ihn am Morgen als den betriebsamen Bäcker gesehen, so war er jetzt ganz der Poet; er sprach lebhaft von der Literatur seines Vaterlandes und äußerte seinen Wunsch, den Norden zu sehen, dessen Natur und geistiges Leben ihn zu interessieren schien.

Mit großer Achtung verließ ich einen Mann, dem die Musen eine nicht geringe Gabe verliehen haben, der aber dennoch Verstand genug besitzt, trotz der Huldigung, die ihm dargebracht wird, bei seinem ehrsamen Handwerk zu bleiben, und es vorzieht, der merkwürdige Bäcker in Nimes zu sein, an statt nach einer kurzen Huldigung sich in Paris unter Hunderten von Poeten zu verlieren.

HANS CHRISTIAN ANDERSEN

 

 

 

 
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